Ein Tag mit EurAsia Heart in Ekaterinburg
-- Erlebnisbericht von Felix Fluck, Mitglied des Stiftungsrates --

Ein Tag mit Eurasia Heart im russischen Ekaterinburg

Ein Tag mit Eurasia Heart im russischen Ekaterinburg

Kurz vor 14 Uhr stehe ich im Eingangsbereich des riesigen, 9-stöckigen Sverdlovskaja Spitals am Stadtrand von Ekaterinburg. In der grossen Halle schweifen meine Blicke über die verschiedenen Einkaufsmöglichkeiten für Patienten und Besucher: Bücher und Zeitschriften, Blumen und Geschenke und – für mich ungewohnt – einen grossen Stand mit allerlei farbenfrohen kleinen kleinsten Kruzifixen und Ikonen.

Ein gemeinsames Ziel

Und da kommt auch schon Ella auf mich zu, die russisch-stämmige Geschäftsführerin von Eurasia Heart und führt mich durch die verwirrenden Gänge, Treppen und Aufzüge in einen spartanisch eingerichteten Büroraum mit etwa einem halben Dutzend Computer-Arbeitsplätzen und einem hässlichen Parkettimitat aus abgeschabtem Linoleum. Im kleinen Nebenraum ein durchgesessenes Sofa, eine Kaffeemaschine und ein Tisch mit Ella’s modernem Macbook.

Ich deponiere meine üppige, auf minus 20 Grad ausgerichtete Garderobe und folge Ella erneut durch die Katakomben Richtung OPS. Kurz vor dem Ziel kommen uns schon die drei im bekannten chirurgengrün gekleideten Kollegen entgegen: Paul Vogt – der Gründer von Eurasia Heart und seine beiden Gastchirurgen Sabine (aus Düsseldorf), Sergej (aus Sankt Petersburg). Bestens gelaunt begrüssen sie uns mit der Aufforderung, sie doch zur Mitarbeiter-Kantine zu begleiten, wo auch sie endlich verpflegt werden sollen.

Die „Kantine“ besteht aus einem kahlen Raum mit ein paar Tischen mit Hockern und einer herzlich-sympathischen Bedienung. Das Mittagessen ist traditionell russisch und – auch traditionell – mehr als nur reichhaltig.

Die Unterhaltung dreht sich um Kulturen, Essen, deren Unterschiede aber auch immer wieder um die in kleinen Patienten, wegen denen wir ja alle hier sind. Schnell wird klar, dass hier drei höchstqualifizierte Profis sitzen, die in ihrer Passion förmlich aufgehen. Mir als Management-Spezialist und medizinischer Laie fällt sofort auf, dass nicht die kleinste Spur von Besserwisserei, Konkurrenz-, oder gar Machtgehabe zu spüren ist: Da sitzt kein „Team of leaders“ sondern ein echtes „Leadership-Team“…!

Zur bildlichen Erklärung des Unterschiedes: Wenn eine zufällige Gruppe von Führungskräften in einen Lift einsteigt, ist das ein „Team of Leaders“. – Wenn der Lift dann ein paar Stunden stecken bleibt, wird daraus bald einmal ein „Leadership Team“, denn es geht nur noch um eines: Um jeden Preis, das gemeinsame Ziel – die Befreiung aus dem Lift – zu erreichen…

Erste Visite

Nach dem verspäteten Mittagessen ist „Visite“ angesagt bei den frisch operierten Kindern in der Intensivstation. Diese schaut – aus Laiensicht – genauso high-tech aus wie jene in der Züricher Hirslanden Klinik, wenn gleich die Vermutung nahe liegt, dass die Gerätschaften nicht ganz der 2016-Generation entsprechen.

Dem heute operierten 3-jährigen Buben scheint es gut zu gehen: Paul beugt sich nur kurz über ihn und wendet sich nach ein paar fachmännischen Kommentaren gleich wieder zufrieden ab. Anders beim erst 6 Wochen alten Baby. Das Baby liegt zwar auch regungslos da, hat aber Spezialisten gestern nach erfolgreicher Vormittagsoperation bis 22 Uhr abends auf Trab gehalten. Der Kreislauf wollte sich trotz verschiedenster Bemühungen nicht vorher stabilisieren.

Beim Anblick dieser beiden „komplett verkabelten“ und hilflos daliegenden Kinder kommt mir unweigerlich der Gedanke, dass beide ohne diese Operationen wohl kaum den nächsten Sommer erlebt hätten.

Aber ich habe kaum Zeit für Sentimentalität: Wir gehen gleich alle wieder hoch in den grossen Büroraum, wo einige Assistenzärzte und auch Konstantin, der junge Chefchirurg der hiesigen Kinderabteilung auf uns warten. Obwohl erst 38 Jahre jung, hat er schon 20 Jahre Erfahrung als Herzchirurg. Ich frage mich natürlich, wie sowas möglich sein kann, aber Paul erklärt mir mit seinem schelmischen Lächeln:

Ganz einfach – bereits als 18-jähriger Student hat er einfachere Operationen übernommen, die bei uns vielleicht ein 30-jährigen Assistenzarzt machen dürfte. Und dies nicht aus Übermut, sondern schlicht und ergreifend, weil sonst keiner da war, der es hätte tun können…

Riesengrosse Dankbarkeit

Sabine übernimmt die Leitung des nun folgenden mehrstündigen Prozederes. Was auf den ersten Blick wie ein Verhör der lokalen Ärzte anmutet ist in Tat und Wahrheit ein professionell strukturierter Ablauf:

Der behandelnde Arzt erklärt die Krankengeschichte und die vorläufige Diagnose des Kindes inklusive Computer Tomogramme und andere Diagnosehilfen. Die angereisten Chirurgen stellen präzise Fragen und provozieren damit die Ärzte, ihre Aussagen zu präzisieren oder auch zu korrigieren. Nach erfolgtem Abgleich „der Theorie“ – und das kann auch mal eine Stunde dauern – geht’s „in die Praxis“: Ein paar Räume weiter hat die entsprechende Mutter ihr Kind für den Live-Ultraschall vorbereitet und das gesamte Team überprüft das bisherige Verständnis anhand der bewegten Bilder.

Zurück im Besprechungszimmer wird dann das finale Urteil gefällt: Welcher chirurgische Eingriff soll mit welchem Ziel und mit welcher Methode durchgeführt werden. Kaum ist „der Fall“ abgeschlossen, wiederholt sich das Ganze mit dem nächsten Kind.

Diesmal kommt die betroffene Mutter mit den vielen Spezialisten und Beobachtern, dem Durcheinander an Sprachen und Fachlatein und der Anonymität der Untersuchung nicht klar und heult nur noch drauflos, als sie ihr Söhnchen, das hilflose kleine Häufchen Mensch wieder in eine Decke einwickelt und wegträgt. Vermutlich kommt noch eine grosse Portion Angst dazu, denn für ihren kleinen Sergey ist am Folgetag der Operationstermin geplant. Im Laufe der nun folgenden Diskussion der Experten über das Was und das Wie ergibt sich bald ein Konsens, dass das angeborene kleine Loch in der Zwischenwand des Herzens mit grosser Wahrscheinlichkeit von selber wieder zuwachsen wird. Darum war das Verdikt: Keine Operation – bloss Beobachtung für weitere 3 Monate.

Ella und ich holen uns sofort die Erlaubnis vom Gremium, diese Nachricht der Mutter zu überbringen. Wenig später finden wir sie – noch immer weinend – mit ihrem Sergey auf dem Arm. Nach anfänglicher Skepsis hellen sich die Augen langsam auf und wir spüren endlose Erleichterung und riesengrosse Dankbarkeit…

Zurück im Besprechungsraum geht es weiter mit dem nächsten Kind, und dem nächsten, und, und, und… – Ich wage gar nicht zu fragen, wie lange denn die Warteliste sei, aber vom Stapel der Akten zu schliessen, müssen es Dutzende sein.

Ich bin dankbar, Zeuge von ein paar glücklichen Momenten gewesen sein zu dürfen. Und doch quält mich der Gedanke an all die anderen Kinder, deren Zukunft derart ungewiss ist, dass nicht einmal mehr die Mütter wagen an ein „happy end“ zu glauben…